Sonntag, 16. Oktober 2016
Strecke: 33,9km – Etappe: 130,3km – Gesamt: 986,5km
Gehzeit: 9:30 brutto / 6:45 netto
Der erste Blick aus dem Fenster zeigt hellen Nebel, der gegen die Sonne kämpft, im Moment aber noch deutlich unterliegt. Und so kämpfen wir uns ähnlich zäh aus den Federn – war weit gestern!
Schließlich kommen wir vor die Tür, die Luft ist noch feucht und Charlieu empfängt uns im besten Sonntagsglanz. Wir betreten die Stadt über die historische Steinbrücke, die dem Vorort den Namen gab und treffen im Stadtkern auf ein zwiespältiges Bild. Einerseits sehr liebevoll restaurierte Häuser, andererseits schon der leichte Hauch morbiden Verfalls.
Das Geläut der zur Messe rufenden Glocken ist in den Gassen ohrenbetäubend.
Wir sind spät dran, und auch wenn die Kirche schön hätte sein können, wir stellen uns dem zur Messe strebenden Volk nicht entgegen.
Auf dem Weg aus der Stadt hinaus kommen wir an der teilweise geschleiften (Revolution?) und teilweise noch prächtig erhaltenen Abtei vorbei. Der Nase folgend gibt es dort am Empfang einen sehr schönen Pilgerstempel.
Wir merken uns Charlieu auf der Liste der Orte vor, die irgendwann mal mit dem Wohnmobil zu bereisen und intensiver zu besichtigen sind…
Kaum aus Charlieu raus, vorbei am Convent des Cordeliers (einer weiteren Klosteranlage) geht es in der Sonne knackig etwa 100 Höhenmeter bergauf, aber kurz drauf auch genauso schnell wieder herunter.
Bei etwa 7,5 Kilometern erreichen wir Pouilly, eine auch sonntags sehr lautstark geschäftige Stadt. Der Eindruck entseht vielleicht dadurch, daß wir uns auf einer der Einfallstraßen nähren und den Ort auch ebenso wieder verlassen – auf einer langen, geraden Baustelle Richtung Briennon. Dort erreichen wir bei etwa 9,5 Kilometern einen netten kleinen Kanal-Hafen mit einem Café; Tische in der Sonne. Na, wenn das keine Einladung ist…
Uns steckt der gestrige Tag noch etwas in den Knochen, und wir haben auch nicht wirklich Lust heute Abend wieder ohne Hotel durch die Nacht zu irrlichtern. Also versuchen wir, einen halbwegs verlässlichen Plan für die zweite Tageshälfte zu machen.
Das klappt nur zum Teil, denn die Suche nach einer Unterkunft macht keine ganz große Freude.
Wir haben Kontakt mit einer Pension in Saint Haon le Châtel. Aber bis dahin sind’s noch gut 20 Kilometer.
Na gut, also los!
Es geht ein kleines Stück am Kanal lang, dann aber wieder auf den nächsten Hügel, durch die Felder und am Waldrand entlang. Sehr kurzweilig erreichen wir bei Kilometer 13,5 La Bénisson-Dieu, einen Ort mit langer Pilgertradition.
Wir erfahren, daß es gute Tradition der Clunienser war, die etwas unruhigeren Geister auf die Pilgerreise nach Santiago zu schicken. So hält man Ruhe im eigenen Sprengel!
Der Ort empfängt uns in der Mittagszeit träge und verlassen, große Pilgerscharen sind definitiv nicht in Sicht.
Von hinten nähern wir uns der Kirche, die auf dieser Seite nicht die typische, stets zugängliche Seitentür hat. Auch der separat stehende Glockenturm ist ungewöhnlich. Durch einen Spalt zwischen ihm und einem Nebengebäude schlüpfen wir auf den kleinen Platz vor dem Haupteingang. Der ist offen, und wir treten ein.
Drinnen schaut es auf den ersten Blick sehr ruhig, aufgeräumt und hell aus; der letzte Frühjarsputz ist an diesem Gotteshaus jedoch zumindest teilweise vorbei gegangen.
Hinter und öffnet sich die Tür und zwei weitere Besucher treten ein. Eine sonore Stimme sagt deutlich vernehmlich “Bonjour, les pèlerins du Compostelle!”. Es ist ein mittelalter Geistlicher. Keiner der lokalen Pfarrer, dafür bewegt er sich in der Kirche nicht zielstrebig genug. Aber der Art nach zu urteilen, wie er seine Stimme in der Kirche einsetzt, doch jemand, der das häufig tut. Wir kommen ins Gespräch, und der Mann erweist sich als außerordentlich polyglott. Er spricht die gängigen europäischen Sprachen recht flüssig, hat eine Zeit in Frankfurt gelebt. Er ist mit einem jüngeren Geistlichen im Schlepptau ebenfalls zu Besuch hier; mehr erfahren wir nicht. Zum Abschied bekommen wir unsere ganz persönliche “Bénisson-Dieu”, dreisprachig.
Wir laufen noch etwa zwei Kilometer weiter und finden auf einer verlassenen Weide (etwa bei Kilometer 16) zwei angenehm sitzhohe und trockene Baumstümpfe. Wenn das mal keine Einladung zur ausgiebigen Rast ist! Es könnte wärmer sein, es könnte sonniger sein, aber das schiere Vorhandensein einer Sitzgelegenheit ist auf dem Jakobsweg ja an sich schon ein recht seltenes Ereignis. Carpe sellam!
Frisch gestärkt treideln wir weiter durch die Weiden und erreichen, gerade den Rucksack aufgesetzt, eine sehr kurzweilige Furt mit umgehender Wackelbrücke.
Auf den nächsten Kilometern überqueren wir einen Hügel (etwa 100 Höhenmeter), der uns einen schöne Ausblick üder die Weite Ebene gibt. Das hinterlässt allerdings auch wieder ein etwas ungutes Gefühl.
Denn es ist recht schwierig, hier Entfernungen abzuschätzen. Allerdings ist das für heute zu erreichende “irgendwo da hinten” etwas klarer zu sehen. Denn das Tagesziel müßte am Hang auf der anderen Seite der Ebene liegen. Irgendwo da ziemlich weit hinten halt!
In der Tendenz steigt der Weg nun durch endlose Weiden beständig an. Etwa bei Kilometer 25 spendet ein Wegweiser merklich Trost.
Wir wissen nun zwar nicht, wie weit es noch zum Tagesziel ist. Aber wir wissen, wie weit es noch bis Santiago ist. Es weht ein etwas kühler Wind; die Wolken werden etwas fester.
Nach Saint-Romain-la-Motte knickt der Weg rechts ab, und das “irgendwo da hinten” wird etwas konkreter. Es ist jedoch nicht so klar einzuschätzen, ob der Ort hinter dem nächsten, dem übernächsten oder dem überübernächsten sichtbaren Abschnitt der Landschaft beginnt.
Also weiter. Zwar gibt es heute keinen immer länger werdenden Schattenwurf, aber sowohl die Uhr (kann man ja auch mal beutzen) als auch die langsam abnehmende Helligkeit und der nachlassende Flugverkehr des in der Ebene beständig brummenden Sportflugplatzes deuten darauf hin, daß sich der Tag herzlich wenig darum schert, wie weit wir noch vom Tagesziel entfernt sind.
Dennoch muß auf jeden Fall Zeit sein für die Dämmerungskuh des Abends, denn kurz vor ihrem Untergang färbt die Sonne den kurz etwas aufgerissenen Himmel doch noch mal.
Es geht weiter, ab Kilometer 28 steigt der Weg merklich an. Klar, denn der Zielort liegt ja zumindest auf halber Höhe der Hügelkette, die das Loire-Tal westlich begrenzt.
Es sind zwar nur etwa 100 Höhenmeter, aber sie ziehen in Verbindung mit der generellen Bereitschaft, ein gepflegtes Bier zu trinken und warm zu duschen, doch noch ein wenig Kraft aus den Knochen.
Wir erreichen Saint-Haon, und mein Telefon tut etwas Neues, Wildes: Es schaltet bei verbelibenden 30% Restladung einfach so ab als ich die feinere Navigation zur Herberge dieser Nacht beginnen will. Das letzte Bild der Anzeige brennt sich im Dunkel noch in meine Netzhaut ein, und so beschließe ich, aus diesem Eindruck heraus nach der Adresse zu suchen statt den Zusatz-Akku aus dem Rucksack zu kramen und die Technik wieder in Gang zu bringen. (Nein, einfach nach dem Weg zu fragen ist hier keine Möglichkeit. Nicht wegen meines männlichen Stolzes oder der Sprachbarriere, sondern wegen dem absoluten Fehlen möglicher Ansprechpartner.)
Mein Eindruck trügt mich nicht, und wir finden das “Relais Saint Jacques“, auch im Dunkeln.
Dabei handelt es sich aber schon irgendwie um die Edelvariante einer Herberge. Zielgruppe sind – auch, wenn es der Name anders vermuten ließe – eher weniger Pilger als gestresste Städter (wo kommen die hier auf dem platten Land her?), die sich bei Jacuzzi im Mondenschein von den Strapazen der Stadt erholen möchten.
Wir sind die einzigen Gäste, und der Hausherr kämpft in der Übergangszeit noch ein wenig mit der Heizung des Halb-Passiv-Hauses. Der erste Eindruck trügt ein wenig als wir am Rande des Wohnzimmers hinter der Couch vorbei die etwas knorrige Tür zu einem weiteren Raum gewiesen bekommen. Das Zimmer ist nicht groß, frisch renoviert, mit eigenem Bad und bester Aussicht auf die Loire-Ebene.
Während wir uns etwas frisch machen und die Beine ausstrecken, hören wir Pascale durch das relativ hellhörige Haus schlurfen – er bereitet in der modernen Küche im Eingangsbereich das Essen vor.
Es gibt kurz darauf Omelett, viel davon und eine Flasche Rotwein. Aus der anfangs etwas höflich-bemühten Konversation entspinnt sich ein interessantes Gespräch über die Konstruktionsfehler der euopäischen Union, des Bankensystems, der globalisierten Wirtschaft, der Digitalisierung, ach, der Welt als solcher. Pascale zeigt sich als auf allen Gebieten recht versierter Gesprächspartner mit einer kritischen aber nicht übermäßig paranoiden Sicht auf die Dinge. Im Grunde erwartet er hier in aller Ruhe den Zusammenbruch, aber das wird hier sicher nicht so schlimm wie im Rest der Welt, denn die Region hat alles, was man zum Leben braucht und er fühlt sich gut vernetzt.
Wir erfahren noch, warum wir zwar den ganzen Tag Weiden sehen, es in den Restaurants aber praktisch kein lokales Rindfleisch gibt: Die Gegend hier produziert Kälber, die dann zur Mast weiterverkauft werden. Wenn hier mal tatsächlich ein Tier das Schlachtalter erreicht, ist es entweder so ausgelaugt, daß es nicht mehr genießbar ist oder so gut, daß es gar nicht erst zum Verkauf kommt…
Nach einem anstrengenden Tag und dem Blick auf den Boden der Weinflasche wird es jedoch auch hier wieder mal dunkle Nacht…
Fazit des Tages:
Sehr schöne, aber wieder mal lange Etappe durch das Weideland zu diesem Zeitpunkt noch glücklicher Rindviecher. Herrlich zu gehen, mit einigen kurzweiligen Ein- und Aussichten. Bei diesem Abschnitt des Jakobsweges geht es allem Anschein nach eher um Leute und ruhige Kilometer zwischen den einzelnen Treffen!