Mittwoch, 22. Oktober 2014
Strecke: 39,3km – Gesamt: 221,6km
Gehzeit: 8:30 brutto / 7:00 netto
Mitten in der Nacht werde ich kurz wach, denn draußen durchbricht ein Gewitter zuckend die absolute Dunkelheit.
So klingelt der Wecker am nächsten Morgen noch ein wenig unbarmherziger. Meine Wirtsleute kriegen es offensichtlich mit, denn schon bald bekomme ich meine vorgewärmten Klamotten gebracht.
Das Frühstück ist herzhaft und nett (aber nicht mein Fall, denn ich bin morgens ein Süßer).
Brötchen kann’s nicht geben, denn der Bäcker hält nur Dienstags, Donnerstags und Samstags kurz im Ort.
Über den Preis der Übernachtung müssen wir noch kurz verhandeln, denn “Das machen wir normal nicht.”.
Ich komme etwas später als sonst los.
Schon nach wenigen Metern fängt es an zu nieseln und es kommt ein sehr kalter Wind auf. Im Vergleich zu gestern ist das zwar noch harmloser Wellness-Tourismus, ich ziehe aber trotzdem meine Regenkleidung an und muckele mich dick ein. Das Thermometer an der Hauswand neben einer Sonnenbank zeigt fünf Grad.
Die Füße? Ach, die Füße…wir werden sehen…
Heute wird es mehrfach aufwärts und abwärts gehen; insbesondere mit “abwärts” fehlt mir jegliche belastbare Erfahrung.
Ob ich heute bis Trier kommen werde?
Ich nehme es mir vor, wissend, daß ich nach etwa 25km auch in Fell Unterschlupf suchen könnte, falls mir meine Füße (oder Knie oder Beinmuskeln oder Rücken oder, oder, oder) den Streik androhen.
Nach Haag geht es erst mal ein Stück geradeaus, mit dem zwischenzeitlich gewohnten Panorama tief liegender Wolken.
- Blick zurück nach Haag
- Der rettende Weiler der letzen Nacht im schonungslosen Close-Up
- Begrenztes Panorama…
- …und weiter geht es ähnlich spektakulär…
Durch den im letzten Bild sichtbaren Wald führt der Weg überwiegend gemächlich bergab nach Gräfendhron. Klingt nach einem Ort, sieht aber selbst auf der Karte kaum danach aus.
Es geht weiter, gemächlich an den Flanken der Berge entlang, immer leicht steigend oder leicht fallend.
Der Regen hat aufgehört, und je nachdem, ob der Wind frei wehen kann oder der Wald ein wenig schützt, ist die empfundene Temperatur sehr unterschiedlich. Reißverschluß auf, Reißverschluß zu…
Meist schützt mich der Wald ganz gut vor der Witterung, und so komme ich eigentlich ganz gut voran.
Wenngleich ich auch mangels Aussicht oder Abwechslung kaum etwas davon spüre.
Auch der Wald ist sich selbst sehr ähnlich. Menschen? Treffe ich wieder praktisch keine.
Tiere? Nicht zu sehen, denn die Eichelhäher-Kommune kündigt mein Kommen stets weithin hörbar an.
Ich laufe praktisch von selbst, finde einen Rhythmus mit kurzen Pausen. Denn heute begleitet mich der Hunger.
Was mein Kopf derweil macht, weiß ich gar nicht mehr so genau.
Unterwegs gibt es wieder ein paar Geschichten und Weisheiten am Rande…
- Wirklich hilfreich! Ich lasse den Alltag weiter los…
- Hier war dann die Aufmerksamkeit dann doch mal gefordert, denn das Ding wackelte mehr als es auf dem Bild aussieht.
- Personalisierte Wegweisung. Das ist aber nett!
- Es fehlt noch der Zebrastreifen. Bei der Verkehrsdichte hier ist der aber verzichtbar.
Der Geist geht auf Reisen, denn die Ereignisdichte des gut ausgeschilderten Weges verlangt ihm ansonsten nicht viel ab.
Der Untergrund ist etwas wechselhaft, aber nicht allzu anspruchsvoll.
Ich nähere mich Fell, und die Wegweisung ist wirklich vorbildlich.
Ich komme weiter gut voran. Bergauf und bergab lasse ich mir bewußt Zeit. Denn einerseits sollte ich meine Kräfte nicht überschätzen und andererseits wollen die Füße heute auch nicht so richtig schnell. Der Blick auf das GPS sagt mir, daß ich trotzdem nicht besonders langsam bin.
Siedlungen mit Einkaufsmöglichkeiten finde ich unterwegs keine, und so bleiben Kaffeedurst und Süßhunger unbefriedigt.
Das Brot, das ich mir von der Übernachtung mitnehmen konnte, macht zwar solala satt, aber Salami und Käse schmecken nach der benachbarten Blutwurst. Und die mochte ich definitiv nicht. Ich krame meine Notfall-Haferflocken-Riegel heraus.
Fell kündigt sich recht früh durch einen Sportplatz mit Publikum (Schulausflug) an.
Es dauert aber schon ein wenig, bis ich den Ort erreiche und dort in der Baustelle das Hinweisschild einer Bäckerei finde.
Bei Cappuccino und Kuchen überlege ich, wie’s mir geht.
Erst als Koffeein und Zucker die Blutbahn erreichen, komme ich zu einer eindeutigen Tendenz: Es ist noch früh am Tag, das Wetter ist nicht total übel und ich habe eigentlich noch recht viel Kraft – jetzt wo der Zucker im Blut angekommen ist.
Zudem wirkt das gastronomische Angebot von Fell eher überschaubar.
Der Blick auf die Streckenplanung offenbart, daß die meisten Höhenmeter für heute gegangen sind.
Bis Trier waren’s insgesamt vier Mal runter bis zum nächsten Bach und drei Mal wieder hoch. Jetzt ist noch ein Rücken zu überqueren, danach geht’s eben an der Mosel entlang nach Trier rein.
Vor meinem geistigen Auge visualisiere ich die Porta Nigra (in der Bildversion meines ersten Latein-Buches), eine Badewanne und das reichhaltige gastronomische Angebot der ältesten Stadt Deutschlands.
Also los!
Der Abschnitt nun kürzt eine Schleife der Mosel (nennt man die “Traumschleife”?) ab, zählt also irgendwie wohl nicht mehr so ganz eindeutig zum Hunsrück.
Nach Fell wird dieser Hügel zügig erklommen.
Dort oben wird der Blick auf das Moseltal freigegeben. Soviel davon zwischen Autobahntrasse und Wolken zu sehen ist.
Auch Richtung Hunsrück läßt sich ein letzter Blick auf die Ausläufer der Hochebene erhaschen.
Mir geht’s gut.
Auch, wenn die Füße meckern, ich bin mental und körperlich schon eher im Gleichgewicht…
Ab hier stürzt sich der Weg zügig in die nächste Senke.
Die Wildschweine leisten hier nächtens offensichtlich ganze Arbeit. Frische Hufabdrücke und ziemlich viele aufgewühlte Batzen zeugen davon.
Das Gehen bergab ist anstrengend, ich muß meinen Schlappschritt aufgeben und die Füße heben. Erstmals spüre ich am linken Schienbein ein leichtes Ziehen. Naja, bald wird’s ja eben…
Der Kreis Trier begrüßt mich mit einer großen Müllverwertungsanlage, die der Weg halb umrundet.
Gemütlich geht’s weiter bis Ruwer – das erste Ortschild des Landkreises Trier.
Und der Beginn recht heftigen Verkehrs.
Klar, ich bin an einem Werktag zur Feierabendzeit in Richtung einer Stadt am Fluß unterwegs, wo es nicht viele Alternativen der Wegführung gibt.
Mir kommt ein Reisebericht in den Sinn. Die hatten empfohlen, ab hier den Bus zu nehmen.
Nein, kommt nicht in die Tüte. Es kann ja nicht mehr so weit sein. Zudem kann ich ja in der Ebene auf Asphalt das Tempo nochmal etwas anziehen.
Trier selbst begrüßt mich mit Regen.
Nicht stark, aber zuviel um ihn einfach zu ignorieren. Also wieder rein in die Regenklamotten.
Ich treidele weiter durch ziemlich verlassenes Industriegebiet und erreiche die Stadt mehr oder weniger durch die Hintertür.
Noch ein paar Winkel durch endlos scheinende Neben- und Wohnstraßen und endlich sehe ich mein Etappenziel im Nieselregen vor mir.
Ich kann nicht anders als kurz zu jubeln und die Arme gen Himmel zu recken – keiner der Passanten stört sich dran.
Hier ein Hotel zu finden ist kein Problem.
Schon das zweite ist gewillt, einen nassen und müden Wanderer aufzunehmen. Und hat sogar ein Zimmer mit Badewanne.
Das Bad tut aber mal sowas von gut, und erst hier merke ich, daß ich mir wieder mal ein ganzes Stück mehr zugemutet habe als ich eigentlich verkraften kann.
Der benachbarte Italiener macht gute, große Pizza und schenkt zügig nach – auch, wenn er kein Deutscher Meister darin ist.
So gestärkt kommt die kurze abendliche Sighseeing-Runde um die Porta Nigra. Große Strecken laufe ich heute nicht mehr. Ich gehe es dann lieber morgen früh etwas gemütlicher an.
- Porta Nigra, von der Stadt aus gesehen. Mal wieder nicht von der Tormitte aus, sondern einen Laternenpfosten als Stütze benutzend, denn wer hat sein Stativ vergessen?
- Porta Nigra von draußen.
Kurz nachdem ich das Hotelzimmer erreiche, wird es wie immer wieder zügig Nacht um mich…
Fazit des sechsten Tages:
Es war anstrengend, aber ich habe mein ursprünglich gestecktes Ziel einen Tag vor der bestenfalls für möglich gehaltenen Zeit erreicht.
Ich bin körperlich genau genommen wohl ziemlich fertig, aber ich fühle mich gut und freue mich. Ich hatte es unterwegs sanft, ich hatte es etwas härter, und ich bin unerwartet gut durchgekommen. Der Kopf ist frei, und ich habe unterwegs recht viele Eindrücke sammlen können. Natürlich, die Gegend war nicht sonderlich aufregend, aber es war in Ordnung so. Denn bei der ersten mehrtägigen Wanderung kann der Schwerpunkt ja durchaus auch auf dem Durchkommen liegen. Bei allzu vielen Möglichkeiten zur Ablenkung hätte ich mich nur verzettelt…
Ich habe noch Zeit. Ich habe noch Energie. Also versuche ich noch, in den nächsten Tagen möglichst weit Richtung Metz zu kommen.