Freitag, 23. Oktober 2015
Strecke: 18,1km – Etappe: 341,9km – Gesamt: 856,2km
Gehzeit: 6:30 brutto / 3:15 netto
Schon an der Überschrift und der Gehzeit wird wohl klar, daß diese Etappe etwas speziell war.
Als erstes hält mich die Bettdecke etwas länger gefangen als normal.
Das liegt zum einen daran, daß die Tagesetappe planerisch überschaubar ist: Einfach auf der alten Bahntrasse weiter bis Cluny, mit einem kurzen Abstecher nach Taizé. Zum anderen hat mich die Leuchtreklame der auf der anderen Seite des Dorplatzes liegenden Pizzeria in den sehr frühen Morgenstunden um den Schlaf gebracht. Keine Ahnung, warum, schließlich hat sie die ganze Nacht herumgeblinkert und es hat mich nicht die Bohne gestört.
Nun gut, um knapp vor 10 bin ich auf der Straße.
Gegnüber gibt es ein museumsreifes Schloß, das auch als solches betrieben wird.
Ich sehe noch die Laubbläser die Wege säubern, da rollt auch schon der erste Bus an. das vermindert den spontanen Reiz, hinzu kommt noch der äußerst selbst bewußte Eintrittspreis. Nein, Danke!
Aus Cormatin hinaus wieder auf die Bahntrasse zu finden ist keine große Herausforderung.
Vor dem Erreichen der Reisegeschwindigkeit empfängt mich ein Stück Modellbahn-Landschaft. Auf der Rennstrecke angekommen kann ich von hinten noch einen Blick auf das Schloß von Cormatin werfen. Und da sehe ich dann tatsächlich auch noch zwei etwas einsame Störche durch die Wiesen staksen.
- Modelleisenbahn-Landschaft in Originalgröße.
- Sah von vorne etwas spektakulärer aus – wie halt typische französische Fassaden so sind: Schloß Cormatin
- Kein schwarzer Storch, aber immerhin mal einer!
So, jetzt aber genug rumgemacht! Ich beschleunige und begebe mich in den grünen Tunnel.
Es passiert nicht viel, das Wetter ist freundlich und ich komme gut in Schwung.
Ab und an eröffnet sich mal ein netter Ausblick.
Moment mal, da zoomen wir noch etwas rein.
Ich nähere ich Taizé. Schon ziemlich neugierig.
Über den Ort habe ich vorher ein wenig gelesen. Das war zwar einerseits ganz interessant, andererseits geben die Brüder auf ihrer Internetseite recht klar zu verstehen, daß sie eigentlich nur an den jüngeren Seelen interessiert sind und die Älteren doch lieber zum Golfen gehen sollen. Außerdem möchten sie keine Tagesgäste, das bringt ihnen zu viel Unruhe.
Ich mache mir im Vorfeld also kein allzu großen Hoffnungen, Einlaß zu finden. Und bei der Annäherung über die Bahntrasse zeigt mir der Ort auch ziemlich die kalte Schulter.
Faltterband sagt, daß der Wald bitte wegen Waldarbeiten nicht zu betreten wäre und man gefälligst Ruhe zu halten habe.
Im Hintergrund dröhnen die Motorsägen. Komische Form von Meditation, die die da zu pflegen scheinen!
Von dieser Seite ist also kein Reinkommen, ich bleibe auf dem Radweg.
Ich nähere mich dem Ort über seine offizielle Seite.
- Klare Ansage der Brüder: “Du kommst hier nicht rein!”
- Ortseinfahrt von Taizé: Hier deutet nichts auf Besonders hin.
Gleich bei den Häusern geht es rechts kurz steil bergauf durch ein absolut verschlafenes aber sehr herausgeputztes Örtchen.
Im Ort kommt mir eine Gruppe junger Menschen entgegen, die heiter plappernd Englisch als Brückensprache für das nutzen, was sie mit Händen und Füßen nicht ausdrücken können.
Kurz drauf nähere ich mich der Anlage der Bruderschaft, den Schildern zum Empfang folgend.
Der praktische, kahle Bau wirkt verschlossen, ist es aber (natürlich) nicht.
Vielmehr werde ich am Empfangstresen von einem freundlich lächelnden jungen Herrn taxiert, der meine Frage nach einem Stempel für den Pilgerpaß beantwortet: “Klar bekommst Du hier einen Stempel. Dem Akzent nach bist Du Deutscher, stimmt das?”
Ich bejahe verdutzt, er fährt fort: “Hast Du’s eilig oder willst Du ein wenig über den Ort hier erfahren?”
Natürlich will ich. Er ruft eine junge Frau, die mich auf eine der schlichten Holzbänke bittet und mir einen Tee aus einem Plastiknapf anbietet.
“Den gibt’s nur hier. Ganz besondere Mischung.”
Ich setze den Rucksack ab und mach’s mir – so gut es geht – gemütlich, höre meinen Tee schlürfend zu, wie mir Alex die Idee des Ordens und seiner Arbeit erklärt. Das hab’ ich zwar vorher auch schon im Internet gelesen, aber hier ist’s einfach netter.
Sie fragt mich, ob ich gerne ein wenig bleiben möchte, die Mittagsandacht mit ihnen feiern möchte.
Erstaunt frage ich nach, denn die Brüder hatten ja geschrieben, sie wären an Tagesbesuchern nicht interessiert.
“Ja, stimmt schon. Aber es ist grade im Lager nicht so voll, wir haben nicht mal 2.000 Leute hier. Außerdem siehst Du nicht wie ein reiner Sightseeing-Tourist aus. Bleib’ ruhig und schau’ Dich ein wenig um. Kannst ruhig auch hier essen, wenn Du magst.”
Wir unterhalten uns noch einen Moment.
Schließlich ist der Tee alle und mich hält’s vor Neugier kaum noch auf der Bank. Ich mache einen ganz gelassenen Rundgang auf dem Gelände und komme aus dem Staunen nicht heraus.
Überall sind junge Menschen, meist Franzosen, aber eigentlich aller Herren Länder, unüberschaubar viele auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick erkennt man Gruppen bis maximal 20 Teilnehmer, die miteinander im intensiven Dialog sind. Entweder spielen sie irgendwelche albernen Spielchen, diskutieren angeregt oder wollen gerade irgendwo hin. Trotzdem keine Hektik, kein Geschrei und…keine Mobiltelefone.
Keiner scheint mich irgendwie zur Kenntnis zu nehmen, die sind alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber auf eine ansteckend positive Weise. Schon nach kurzer Zeit muß ich einfach anfangen zu lächeln.
Ich schaue mich auf dem Gelände weiter um und erreiche schließlich die Kirche.
Der niedrige Komplex kommt von außen eher wie ein Marktgelände daher, weitgehend fensterlos und eher dunkel.
Durch eine der mäßig passgenau gearbeiteten Schwingtüren an der Seite des Gebäudes finde ich eine ganze Weile vor der Andacht Einlaß und bekomme sofort ein abgegriffenes Gesangbuch in die Hand gedrückt.
Drinnen empfängt mich ein auf den ersten Blick eher dunkler Raum. Die Luft steht, riecht verbraucht und schon auch ein wenig nach Füßen, obwohl die hier ruhig züchtig verhüllt bleiben dürfen.
Sitzmöbel gibt es hier keine, der Boden ist mit grobem Filz belegt. In der Mitte ist ein Areal durch etwas Grünzeug abgeteilt.
In der dunklen Mehrzweckhalle gibt es nur einen Blickfang und das ist der Altarraum. Der ist die einzige wirklich wahrnehmbare Lichtquelle.
Der Rundumblick zeigt Rolltore, durch die der Innenraum erweitert werden kann.
So rein architektonisch ist das also nicht mit einer der extrem lichtstarken Kathedralen, die ich unterwegs bislang gesehen habe, zu vergleichen.
Ich bemühe mich, den Raum auf mich wirken zu lassen. Aber da kommt nicht viel.
Ich finde am Rand eine Stufe, auf die ich mich mit meinen Wanderschuhen setzen kann und nehme den Rucksack zwischen die Knie um die Treppenstufe über mir nicht damit zu blockieren.
So sitze ich und beobachte, wie sich der Innenraum der Kirche füllt.
Als er voll ist, öffnen sich einige der Rolltore. Es ist trotz der vielen Menschen sehr ruhig, leichtes Getuschel.
Leichte Orgelmusik dudelt etwas geistlos vom Band.
Gott und die Brüder arbeiten hier mit jungen Menschen, also nehmen sie’s mit der Pünktlichkeit selber auch nicht so genau.
Schließlich kommen sie doch, einer nach dem anderen und suchen sich ihren Platz im durch das Grünzeug abgegrenzten “hochklerikalen Bereich”. Das ist sehr unterhaltsam anzuschauen, wer eine uniform vor sich hin schluffende Prozession tatteriger Mönche vor dem inneren Auge hat, möge das bitte zur Seite schieben. Es kommen große, kleine, junge, junge, alte, alle Hautfarben, teils schwungvoll und agil, teils alt und gebrechlich, verträumt, konzentriert, schlendernd, schnell, langsam…
Irgendwann sind wohl alle da und die Andacht beginnt.
Das geschieht nicht wie in einer geöhnlichen Kriche, indem sich einer erhebt, in den Altarraum tritt und die Versammelten begrüßt.
Sondern es geschieht, indem die Orgelmusik ausgestellt wird, eine Leuchttafel an der Wand eine Liednummer zeigt und die Menschenmenge unisono ein Begrüßungslied anstimmt.
Die Herrschaften dort gönnen sich den Luxus eines völlig eigenen Liedguts, das mit Kirchenmusik, wie ich sie bislang kannte, nicht zu vergleichen ist.
Nach der Begrüßung wird ein kurzer Text – im Grunde nur ein Satz – in etlichen Weltsprachen (mutmaßlich die der bekannterweise versammelten Muttersprachler) angesagt.
Schweigen.
Ja, gut tausend Jugendliche können schweigen, auch ohne Mobiltelefone!
Noch ein Lied. So langsam beginne ich, die unglaubliche positive Energie der hier versammelten Menschenmenge zu spüren und in mich aufzusaugen.
Unglaublich.
Weil es äußerlich nichts zu sehen gibt, schließe ich die Augen und lasse den Geist des Augenblicks in mich dringen.
Noch ein Text, ungefähr gleicher Art.
Langes, sehr langes, meditatives Schweigen.
Nun kommt ein Lied, das ich melodisch und textmäßig spontan erfassen kann. Zumindest halbwegs, denn in der Gemeinde entfaltet sich ein extrem vielstimmiger Canon bislang unerhörter Harmonie.
Mantra-singen De Luxe! (Anders läßt sich das kaum beschreiben.)
Die Zeit bleibt für mich stehen, ich erfahre eine Art von Erweckung, Erleuchtung, Einsicht oder vielleicht auch nur allertiefster Entspannung, die mir bislang völlig verwehrt war.
Irgendwann wird der Gesang ganz allmählich leiser und dünner.
Ich öffne die vertränten Augen wieder – und finde mich in einer ziemlich entleerten Versöhnungskirche.
Jetzt weiß ich, woher die ihren Namen hat!
Ich rappele mich auf und schaue mich noch einen Moment in der wieder völlig unspektakulären Kirche um.
Passend zum eigenen Befinden ist auch draußen die Sonne herausgekommen und ich entdecke im Herausgehen so ziemlich das einzige schmuckvolle architektonische Detail der Kirche – ihre kleinen, fast ikonenhaften Fenster auf der Südseite:
Noch immer nicht so ganz zurück im Hier und Jetzt trete ich ins Freie und finde mich im Trubel der Mittagessens-Ausgabe. Weil ja eh’ alle Zeit haben, gut drauf sind und am Ende jeder das gleiche kriegt, erübrigen sich drängeln und Schlange-stehen.
Ich halte mich dennoch ganz bescheiden an mein Baguette.
Die speisenden Menschenmassen verteilen sich ebenso ungezwungen über das Gelände wie zuvor. Gute Laune und Gelächter allerorten.
- Irgendwo in der vorderen Hälfte des Knäuels gibt es Linsenpapp.
- Tischkultur in Taizé.
- Und wer darf’s nachher alles spülen?!?
- Der Glockenturm steht abseits der Kirche und ist gleichzeitig das Eintrittsportal des Geländes.
Ich verabschiede mich von der Bruderschaft durch das Portal des Glockenturms, der – ebenso wie der Rest der gesamten Erfahrung – eher buddhistisch anmutet.
Schweren Herzens trenne ich mich von dem unglaublich sympathischen Ort, die Tiefe der soeben gemachten spirituellen Erfahrung nur ansatzweise erahnend.
Jedenfalls weiß ich beim Besuch am Grab des Gründerbruders ganz spontan, wo der Kiesel in meiner Hosentasche auf dieser Reise hingehört.
- Hier ist mir echt ein Stein vom Herzen gefallen. Danke, Frere Roger!
- Darf man vor dem Grab eines Unbekannten frohen Mutes lachen??
Ich verabschiede mich nach einem weiteren, einsamen stillen Moment von diesem faszinierenden Ort. Hier passiert für die jungen Menschen, die sich darauf einlassen, wirklich etwas ganz Spezielles.
Ein paar Schritte weiter, durch den Ort den Berg hinab, hat mich die alte Eisenbahntrasse wieder.
Versonnen trotte ich auf ihr entlang in Richtung meines Reiseziels Cluny.
Das gibt mir die Gelegenheit, noch ein wenig über das Erlebte der letzten – Moment mal…fast zwei Wochen! – nachzudenken und meine Gefühle dazu zu sortieren, bevor mich die Realität der Zivilisation zurück hat.
An die erinnert die über ein ganzes Stück parallel geführte TGV-Strecke (müßte Lyon-Paris sein) praktisch im Minutentakt.
Schon bald habe ich den ersten Blick auf Cluny – einstmals spirituelles Zentrum Europas und päpstlicher Nebensitz mit der seinerzeit größten Kirche der Christenheit.
Das, was die französiche Revolution aus der Ferne betrachtet davon übrig ließ, ist eher provinziell.
Ab hier ist der Weg zum Etappenziel ein Kinderspiel.
Ich erreiche die enge Innenstadt. Die sieht zwar ganz nett aus, läßt aber die einstige Größe und Strahlkraft nicht mehr erahnen.
In der Nähe der Kathedrale und Abtei finde ich problemlos ein bequemes Lotterbett für die letzte Nacht unterwegs.
Entlang des ehemaligen Seitenschiffs der Kathedrale bemüht man sich, den ehemaligen Grundriss zumindest teilweise anzudeuten, aber eine rechte Vorstellung kann man sich aus den Säulenstümpfen nicht machen.
- Kirche aus der Nähe: Vom alten Schmuck blieb nicht viel übrig.
- Das kann jetzt irgendwie alles oder auch nichts sein: Ehemaliges Seitenschiff der Kathedrale.
Die Fassade der Abtei ist wieder ganz gut hergerichtet, wirkt jedoch schon eher weltlich…
In Sachen Sightseeing ist jetzt aber schon ziemlich die Luft raus. Die Andacht in Taizé war ganz klar das verdiente Ende einer sehr schönen Reise. Das hier ist jetzt nur noch ein klein wenig Abhängen und nach Hause Kommen!
Dennoch ergeben sich nach dem Abendessen in der Stadt noch ein paar ganz nette Perspektiven…
- Es wird Abend in Cluny. Alle suchen sich ihren Schlafplatz.
- Taugt zur nächtlichen Filmkulisse: Gasse in der Stadt.
- Die Abtei macht auch nachts eine ganz gute Figur.
- Seitlicher Blick auf den nächtlichen Gebäudekomplex.
- Aber auch abseits der Abtei gibt es schicke Gebäude…
- Und mit diesem etwas verwackelten Blick endet der Tag. Und irgendwie auch die Reise.
Fazit des Tages:
Auch auf einer extrem kurzen und in der Strecke absolut übersichtlichen und im Grunde langweiligen Tagesetappe kann man eine ganze Menge erleben.
Laudate omnes gentes!
Das reicht als Botschaft für den Tag locker aus!
Ein wirklich beeindruckender Abschluß einer abwechslungsreichen Reise, den ich besser nicht hätte treffen können.
Ab nach Hause!