Sonntag, 19. Oktober 2014
Strecke: 38km – Gesamt: 118,3km
Gehzeit: 9:00 brutto / 7:30 netto
Natürlich klingelt der Wecker wieder zur absolut unflätigen Zeit – 6:45. Diesmal allerdings erfolglos. Schon beim ersten Wisch vertausche ich schlummern und abschalten. Und schalte auch selbst nochmal für eine kurze Zeit vollständig ab.
Dennoch schaffe ich es, um 9 Uhr fertig bepackt und mit einem anderen Typ Socken an den Füßen im dichten Nebel vor dem Hoftor zu stehen.
Erst läuft die Elektrik los, dann ich selbst.
Zögerlich zunächst, aber schon bald habe ich wieder den gewohnten Schritt.
Ich verlasse Ober-Ingelheim zügig bergab und schon nach wenigen Minuten steigt der Weg langsam in die sicherlich malerischen Weinberge mit herrlichem Panorama über das Rheintal. Also mal so rein imaginär, wenn man sich den Nebel mal wegdenken würde.
Zur besten Kirchgangs-Zeit mit weithin hörbarem Glockengeläut erreiche ich Gau-Algesheim. Und spare mir den im GPS-Track vorgesehenen Abstecher in die Ortsmitte. Denn ich werde jetzt weder die Kirche besichtigen noch mir einen Stempel holen können.
Ich überquere die heute nicht hörbare Bahnlinie – so ein Lokführerstreik hat auch etwas für sich.
In den Feldern hinter Gau-Algesheim sehe ich abgeerntete Felder im Nebel, aber auch ungeerntet verkommende Parzellen. Dazwischen flattern träge die Krähen, die ich vor mir her treibe. Keine Menschenseele.
Kein schöner Land in dieser Zeit.
Mir kommt allerdings eher die komische Version in den Sinn – Hagen Rether hatte mal eine Zugabe, in der er Günther Grass’ Gedicht “Novemberland” auf die Schippe nahm.
Nur schwerlich kann ich an mich halten, laut herauszuplatzen:
“Liieegt brrraaaach dass Laand zum Frrraaaaß deeerr Krrrääähenschaaar!”
Grinsend trotte ich weiter und erreiche bei Bingen-Gaulsheim den Rhein. Denke ich zumindest.
Zu sehen ist von Vater Rhein nicht viel, denn der liegt noch mit Decke im Bett.
- Die Bäume zeigen nicht das andere Ufer an, sondern den Damm zwischen Hauptbett und Nebenarm.
- Trübe Morgenstimmung am Fluss…
- Aber auch, wenn die Tüte vorne am Apparat “Objektiv” heißt: Ein Bild soll nicht die Wahrheit zeigen, sondern das, was man darin gesehen hat…
- Hier hat die Bildbearbeitung ganze Arbeit geleistet! Im Original ist fast nur Ursuppe zu sehen.
Ich finde ein paar größere Steine am Ufer, auf denen ich eine Pause machen kann.
Weil der Fluß ja eher nicht da ist, mache ich eine andere, folgenschwere Entdeckung:
Ich entdecke, wie sich die troddelligen langen Riemen meines Rucksacks zusammenrollen und fixieren lassen, so daß sie nicht so nervig herumbommeln. Außerdem schaue ich mir bei der Gelegenheit auch einige Riemen an, denen ich bislang keine größere Beachtung geschenkt hatte. Und komme ins Grübeln. Moment mal, wenn man diese Riemen hier ein wenig anzieht, müßte die Basis des Rucksacks fester auf dem Hüftgurt stehen. Dieser Riemen hier müßte dann das Oberteil nah an den Rücken bringen, auch wenn man die Schultergurte etwas lockert, ja…, soo…, und dann müßte…
Als neuer Mensch laufe ich weiter, denn von nun an sind die Schultern nicht mehr wesentlich am Tragen des Gewichts beteiligt!
(Nicht vergessen, lieber Leser: Ich blutiger Anfänger, Du wahrscheinlich Halbprofi!)
Ich folge dem Fluß weiter bis Bingen; aufgrund des nahen Hafens und der Stadt gibt es hier sogar mal Menschen. Aber durch den Lokführerstreik nach wie vor sehr wenig Lärm.
Das ganz, ganz langsam sich öffnende Uferpanorama noch ein wenig genießend, weiche ich ein wenig von meinem Track ab. Macht aber nix, denn spätestens an der nahen Nahe-Mündung ist der Abzweig sicher und nicht zu verfehlen.
- Bingen: Burg Ehrenfels paßt auch im Nebel auf, daß die Nahe-Mündung nicht verloren geht.
- Bingen: Der Nebel reißt kurz ein wenig auf und offenbart so etwas wie eine Art Flußpanorama.
- Bingen: Ich kann einen kurzen Blick auf die Germania erhaschen, bevor sie wieder im Nebel verschwindet.
- Bingen: Andeutung eines klassichen Germania-Postkartenpanoramas…
Hier ließe sich mit Kunst und Schaugärten bestimmt herrlich ein wenig in der Sonne herumtrödeln, wenn sie denn nun schiene…
Ich brauche aber noch ein wenig städtische Infrastruktur und mache daher einen Schlenker durch Bingen.
Den Weg hoch auf Burg Klopp spare ich mir allerdings, denn der große Durchblick läßt wohl noch ein wenig auf sich warten und die Burg selber interessiert mich architektonisch nicht so brennend.
Ich hatte eigentlich etwas mehr touristische Hoffnung in die nach etwas mehr als 15km erreichte Drusus-Brücke über die Nahe gelegt – Deutschlands älteste Steinbrücke. Da ist es aber wohl mehr die Idee, die zählt.
Die Nazis haben die Originalbrücke auf dem Rückzug gesprengt. Nach dem Krieg wurde an gleicher Stelle im ähnlichen Stil eine wesentlich breitere Brücke errichtet, über die heute ein Zubringer zur B48 geführt wird. Auch kann man das Bauwerk von keiner Seite so richtig panoramisch goutieren, denn Uferdickicht, Landesstraße, Bundesstraße und Bahnlinie engen Bewegungsmöglichkeiten und Sicht deutlich ein (deshalb mal wieder kein Bild).
Jetzt ändert sich der Jakobsweg, der ab der Brücke zusätzlich und sehr gut als Ausoniusweg ausgeschildert ist, ganz grundlegend:
Der Weg wird mit dem Hinweis, es handele sich von nun an um eine traditionsreiche römische Wegführung, schmal, weich und geht im Wald sehr kräftig bergauf. Römerstraße, soso…
Ich bin alleine, und der Weg wird schon bald ruhig, sehr ruhig. Im Dämmerlicht des überwiegend dichten Waldes folgen die Höhenlinien im Minutentakt. Bei etwa 17,5km begrüßt mich in Weiler eine sehr verlockende Bank zur Rast, denn ich hab’ mal wieder Kohldampf.
Während ich den Ort durchquere, geschieht das Unglaubliche. Es reißt auf, die Sonne kommt raus, und sofort wird es richtig warm.
So warm, daß ich am Ortsausgang von Weiler nach einem kurzen Blick auf die Karte – ja, es kommt jetzt länger kein Wald – die langen Hosenbeine im Rucksack verstaue. Kurze Hose, kurzes Hemd, mitten im Oktober!
An der Landstraße entlang geht es gemächlich weiter bergauf, der Weitblick hält sich noch sehr in Grenzen. Die Ruhe ist herrlich. Und ich merke, wie sie langsam beginnt, auch als solche nach meinem Hirn zu greifen.
Bald erreiche ich das ehemalige, nun überwiegend dem Verfall und dem Abriss preis gegebene Mangan-Bergwerk, eine interessante Mischung aus Hoffnungsträger und verlassenem Ort. Der Bauzaun und die Abwesenheit jeglichen sichtbaren Lebens halten mich aber davon ab, in das Gelände auf eigene Faust einzudringen um ein paar nette Foto-Perspektiven zu suchen.
Landein, landaus geht es auf der Landstraße und gut ausgebauten Wegen weiter durch die Felder und bald auch durch ein wenig Wald.
Die Landschaft ist nett, aber mäßig abwechslungsreich. Sie spannt einfach sanft gewellte landwirtschaftliche Nutzfläche auf.
Und bei etwa 24km treffe ich aus der Nähe auf einige der schon länger immer mal wieder am dunstigen Horizont klar erkennbaren Windräder.
Die für ihren Aufbau nötigen Schwerlast-Trassen durch den Wald bestimmen für die nächsten Stunden den Weg.
Absolut irre, das hatte ich in der Dimension überhaupt nicht auf dem Plan. Bis der ganze Straßenbau und der dabei verfüllte und verstampfte Kies so rein energetisch durchgemahlen ist, müssen die Dinger aber eine ganze Weile kurbeln! Mein Gott, ist das häßlich!
Bei etwa 30km erreiche ich den panoramischen Höhepunkt des heutigen Tages: Blick vom Hunsrück ins Rheintal.
Zumindest theoretisch.
Zwar ist die Kuppe sorgsam gerodet – wurde da schon Platz für weitere Windräder geschaffen? – aber die Ferne ist eher milchig-trüb als klar und blau. Also auch hiervon mal wieder kein Panoramafoto.
Ab jetzt geht es teilweise ebenso kräftig bergab wie es morgens bergauf ging, allerdings überwiegend auf schwerlast-erprobter Straße.
(Erst am nächsten Tag werde ich erfahren, daß diese breit geschotterten Wege der Idee der Römerstraße wohl näher kommen als alles, was ich sonst unter die Füße bekam.)
Nach knapp 34km erreiche ich Dichtelbach, das in erster Linie durch perfekte Autobahnsicht zu überzeugen weiß.
Hinter der Führung der Trasse ist Rheinböllen zu erkennen. Nach knapp 36,5 km stehe ich in dem, was ich als Ortskern identifiziert hatte und sehe mich um. Es gibt ein Hotel, aber da geht keiner an die Tür oder ans Telefon. Rundherum ist nichts zu sehen, die Bürgersteige scheinen außer Betrieb.
Ich bemühe mein kluges Telefon und finde die Adresse eines “Landgasthofs” heraus. Bei der weiteren Recherche entpuppt sich der als Hotel des Autohofs, fast zwei Kilometer außerhalb des Ortes.
Weil meine Ressourcen aber wieder mal relativ erschöpft sind – die andere Art von Socke scheint vor allem eine andere Art von Blasen zu begünstigen – telefoniere ich mich durch und erfahre, daß es im Automaten-Spielcenter Zimmerschlüssel gibt. Um das zu finden, solle ich einfach der Beschilderung zum Burger King folgen.
Na, das klingt ja mal absolut verlockend. Aber alternativlos.
Ich trotte Richtung Autohof…
Es fühlt sich ziemlich seltsam an, zu Fuß auf einem LKW-Parkplatz unterwegs zu sein.
Und es ist auch nur mäßig appetitlich, sich dem Mief der benachbarten Systemgastronomie durch den von ihren Konsumenten bei der Abfahrt aus den Autos geworfenen Unrat zu nähern.
Aber die Fernfahrer-Kneipe der Tankstelle ist gar nicht schlecht.
Auf jeden Fall haben die Erfahrung mit gut gewürzten größeren Portionen und schenken recht zügig nach. Das kann ich heute gut gebrauchen.
Gegen zehn Uhr mache ich noch mal ein Auge auf, als die ersten eiligen LKWs das Ende der Wochenend-Sperre begrüßen, aber dann wird’s wieder mal dunkel um mich.
Daß das Hotelbett kürzer ist und die Füße zum entspannten Lüften heraushängen, ist eigentlich ganz erfrischend und praktisch…
Fazit des dritten Tages:
Sommer im Oktober!
So langsam komme ich in eine Art Reisemodus. Allerdings zweifelsfrei am Rande dessen, was ich körperlich leisten kann.
Also nehme ich morgen definitiv mal etwas Intensität raus. Denn was nutzt der schönste Hungerast, wenn man dabei irgendwo alleine im Wald hockt?
Die Steigungen und Gefälle des heutigen Tages hatte ich nicht in der rudimentären Planung berücksichtigt. Aber andererseits habe ich sie ohne großes Leid und ohne in der Geschwindigkeit extrem nachgeben zu müssen geschafft.
Ein wenig mehr Planung hinsichtlich der Übernachtungen könnte zukünftig ganz praktisch sein. Oder wenigstens eine im Vorab ordentlich recherchierte Unterkunftsliste.