39. Tag: Le Puy-en-Velay – Monistrol d’Allier

Sonntag, 8. Oktober 2017
Strecke: 32,0km – Etappe: 131,3km – Gesamt: 1.197,9km
Gehzeit: 9:15 brutto / 7:00 netto.

Das Hotelzimmer war nicht übermäßig großzügig aber durch Innenhof-Lage sehr ruhig. Der Wecker leider nicht. Denn die tägliche Pilgermesse um 7 Uhr in der Kathedrale wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Wir haben es aber nicht ganz so eilig und packen unsere Sachen noch nicht, sondern planen nach der Messe noch ein gemütliches Frühstück.

Die Fassade der Kathedrale im ersten Morgenlicht

Die Stadt ist noch dunkel und leer, selbst als wir uns der Kathedrale nähern. Auch am frühen Morgen ist das Portal der Kathedrale in seiner Eigenwilligkeit beeindruckend. Uns irritiert, dass es menschenleer ist. Aber während ich mit meiner Kamera mein Glück versuche – immerhin habe ich jetzt das Taschenstativ mal dabei – schlurfen einige weitere Gestalten sichtlich müde in die Arkaden.

Die Kathedrale ist offen, aber belebt. In den ersten Reihen kauern (sitzen kann man’s nicht nennen, wie sie da hängen) etwa 30 Gestalten in Trekking-Klamotten, viele davon mit Rucksack. Einer hat einen Trolley dabei, wie wir ihn aus den Supermärkten von wehrhaften älteren Damen kennen – in knallrot.
Wir setzen uns ans hintere Ende des ersten Reihenblocks, denn wir sind uns hinsichtlich der Liturgie und der Gebräuche nicht so ganz sicher und möchten lieber unauffällig bleiben. Kaum haben wir uns gesetzt, löst sich aus dem Schatten der nahen Säule eine Gestalt und fragt mich, ob ich denn Lust hätte, heute bei der Eucharistie zur Hand zu gehen. Lieber nicht, ich bin ausgetretener Protestant, ich war nie Messdiener, das kann nur schief gehen!
Während der Messe verstehe ich vom Text nicht viel, denn ich bin zu abgelenkt. Die Gesangsstimme des Priesters füllt den Raum, und die Lieder, die er gewählt hat, sind für diese Kirche geschrieben. Ich lasse meinen Geist ganz einfach mit durch Zeit und Raum schweben. Natürlich empfange ich den individuellen Pilgersegen, wenn ich schon mal da bin, kann das nicht schaden, etwas von der Kraft dieses Ortes mit auf den Weg zu nehmen.

Jakobsweg Le Puy-en-Velay Kathedrale Jakobsstatue

Sieht seit Jahrhunderten täglich dutzende Pilger, blickt daher vielleicht ein wenig leer und kann (für meine Generation) eine gewisse Ähnlichkeit mit Davy Jones aus dem “Fluch der Karibik” nicht leugnen: Jakobsstatue im Innenraum der Kathedrale

Nach der Messe bittet der Geistliche die Pilger, sich vor der Statue des Jakobus zu versammeln und noch eine kurze Vorstellungsrunde zu machen. Die ist sehr interessant, und er macht das routiniert und humorvoll. Dabei drückt er jedem einen kleinen Rosenkranz in die Hand – “aus ganz original billigem Plastik und weniger als 10 Gramm schwer, der belastet Euer Gepäck garantiert nicht! Und wenn Ihr nicht genau wisst, was Ihr damit machen sollt, ist hier noch ein kleines Heft über unsere Pilgertradition. Das ist wasserdicht verpackt, und wenn Ihr einen Pilgerpass von hier habt, paßt der in die andere Seite der Hülle. Wir denken hier an Euch!”
Dann erklärt er einen sehr netten Brauch: Unter dem Jakobus steht eine große Holzkiste mit einem Briefschlitz, daneben ein Stapel Zettel und Stifte. Auf der Holzkiste sind Karteikästen mit fein säuberlich einsortieren Zetteln. In allen Sprachen, inklusive Koreanisch.
“Schreibt Euer Herzensanliegen auf einen Zettel und werft ihn in den Schlitz. Dann nehmt Ihr einen Zettel in Eurer Sprache mit auf den Weg. Meditiert über das, was Ihr darauf geschrieben findet. Und wenn Ihr damit fertig seid, legt den Zettel am Wegrand ab. So, und jetzt raus mit Euch, der Weg wartet. Wir öffnen jetzt die Pilgerpforte!”

Das ist eine tolle Show: Mitten im Mittelgang der Kirche teilt sich ein vermeintliches Lüftungsgitter und faltet sich fast lautlos nach oben zu einem Geländer auf, das eine steile Treppe an den absturzgefährdeten Seiten umgibt. Diese Treppe ist nur ein Ausgang, und nur für die Pilger.
Wir verlassen fasziniert die Kirche. Und gehen erst mal in Ruhe Frühstücken und packen. Wir wissen noch nicht so genau, wie weit wir heute wollen. Aber ab hier ist die Infrastruktur laut Reiseführer wesentlich besser. Um etwa 20 nach 9 starte ich die Elektrik und der Weg beginnt, zunächst wieder an der Kathedrale vorbei zum offiziellen Startpunkt der Via Podeniensis, wie sie ab hier Weltkulturerbe ist.
Der Weg verlässt die Stadt zügig, der Flair weicht moderner Stadtrand-Bebauung, und schon einen kräftigen Anstieg später ist Le-Puy bei Kilometer 2 so plötzlich verschwunden wie es aufgetaucht war. Ein faszinierender Ort.

Die Stadt ist landschaftlich schnell vergessen, der Weg wird etwas rustikal, steigt weiter stetig ein wenig an. Etwa bei Kilometer 6 wird uns durch einen tiefen Einschnitt in der Landschaft bewußt, dass wir ja eigentlich schon eine gewisse Höhe haben und uns auf einer Hochebene gut 800 Meter über Meereshöhe bewegen.

In dieser Gegend sehen wir am Rand im Gras auch den ersten Gedenkstein für einen Pilger, der sein Leben hier ließ. Hm…Wenn er in Le Puy gestartet war, hat er hoffentlich im Starten seinen Frieden gefunden. Noch am gleichen Tag, etwas später, hängt ein verwitterter leerer Rucksack an einem Busch, mit einem kleinen eingeschweißten Schildchen, dass er vor sechs Jahren als letzter Gruß an einen Pilger aufgehängt wurde, der genau hier seinen irdischen Weg beendete. Klar, ab Le Puy sind wir auf dem in Frankreich beliebtesten Stück des Jakobswegs. Und mit der Gesamtzahl der Pilger und der zugehörigen Geschichten erhöht sich praktisch zwangsläufig auch die Zahl der traurigen Geschichten.
Obwohl wir jetzt auf einer wesentlich touristischeren Strecke unterwegs sind, sind wir weitgehend alleine. Denn die Anderen sind wesentlich früher aufgebrochen und demnach schon hinter dem sichtbaren Horizont. Zwar überholen wir ab und an einige Wanderer, die gerade Pause machen, aber der Betrieb auf der Strecke hält sich deutlich in Grenzen. Auffällig sind selbstverständlich auf weicheren Passagen zahlreiche Fußspuren. Und zwischendrin schmale Reifenspuren, ganz so, als hätte jemand einen Einkaufstrolley durch die Gegend gezogen…
Der Weg bleibt weiter etwas wechselhaft, teilweise einfach eine Fahrspur, teilweise ordentlich asphaltiert, und er steigt weiter stetig an. Die Landschaft bietet nachdem wir den Einschnitt hinter uns gelassen haben nicht viel Abwechslung, landwirtschaftliche Nutzfläche.

Chapelle Saint Roch, kurz vor Montbonnet

Um Kilometer 15 erreichen wir eine sehr schöne Kapelle am Wegesrand. Aber wir haben gerade eine ziemlich laut schnatternde Gruppe Französinnen überholt und sind froh über die Ruhe. So erkunden wir den Ort nicht näher, denn unsere Verfolgerinnen schicken sich an, das zu tun. Das ist die Chance, den Abstand noch etwas zu vergößern. Menschen auf dem Weg überfordern uns noch sichtlich.
Es geht noch gut drei Kilometer weiter bergauf, und im Wald wird es dann ziemlich rustikal. Das ist zu diesem Zeitpunkt, nach knapp 18 Kilometer kein Problem, denn der Blutzuckerspiegel stimmt, Laune und Konzentration sind bestens.
Dann geht es etwa drei Kilometer durch den Wald bergab. Das fordert deutlich mehr Konzentration, zumal es sich etwas eintrübt und kurz ein wenig nieselt. Am Wegesrand bemerke ich die ersten Steinmännchen mit darin eingeklemmten Zetteln.
Etwa bei Kilometer 23 erreichen wir Saint Privat d’Allier, das klassische erste Etappenziel ab Le Puy.

Zwar sind hier zahlreiche Unterkünfte ausgeschildert, aber hier herrscht auch vergleichsweise reges Treiben. Wir sind mit der Menschenmasse immer noch überfordert, und es ist noch nicht so sehr spät. Der Blick auf die Karte verspricht in etwa 7 Kilometern den nächsten Ort, und dort sind ebenfalls mehrere Unterkünfte notiert. Also weiter. Wenn alle hier abgestiegen sind, kann das mit dem Bett im nächsten Ort ja sicher nicht so schwierig werden.
Der auf den nächsten Kilometern folgende Abstieg in das Flußtal hat es in sich, auch bei Trockenheit.
Zunächst läßt sich alles ganz gut an, nicht befahrene Nebenstrecke. Aber dann zweigt der Weg in einem kleinen Weiler einfach bergab ab. Wir sind froh, dass es trocken ist. Aber auch so müssen wir uns teilweise an den Bäumen festhalten um nicht abzurutschen. Die Bäume zeigen an ihrer Rinde ganz deutlich, dass wir nicht die ersten sind. Und die Steine berichten von vielen abgerutschten Walking-Stöcken.

Wir sind froh als wir endlich eine der Nebenstraßen nach Monistrol erreichen und uns die letzten Meter in den Ort noch ein wenig lockern können. Im Ort folgen wir dem Weg zu einer Bleibe, die im Reiseführer eigentlich sehr sympathisch aussah. Aber die hat heute Ruhetag, ebenso der Nachbar. Aber da, wo wir gerade in den Ort abgestiegen sind, hatte ich ein Hotel gesehen. Und da hat man ein Zimmer für uns. Und eine Dusche. Und ein Abendessen mit ganz netter Unterhaltung durch den irischen (?) Wirt.
Der Abstieg hat uns echt geschafft, der Ort an sich ist legendär häßlich, und so wird es mal wieder schnell Nacht…

Fazit des Tages:

Die erste Etappe auf der als Weltkulturerbe geschützten Via Podeniensis. Perfekt ausgeschildert, aber eben schon durchaus frequentiert. Landschaftlich eigenartig, schwer zu beschreiben.
Der Abstieg am Ende war wirklich knackig, und ich warne Karl, den ich damals kurz vor Dijon getroffen hatte und der uns nun wieder auf den Fersen ist, davor.

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